Gedanken über das Boxen:
“Boxen”, so die US-Autorin Joyce Carol Oates, sei “ein so ungebrochenes und so machtvolles Bild des Lebens – seiner Schönheit, seiner Verletzlichkeit und Verzweiflung, seines unberechenbaren und oft selbstzerstörerischen Muts –, dass es das Leben selbst ist und kaum ein bloßer Sport.” Vielleicht ist das der Grund, warum keine andere Sportart Intellektuelle und Künstler so sehr fasziniert und inspiriert hat wie das Boxen. Die geheime Wechselbeziehung und Anziehungskraft zwischen Boxer und Künstler zog sich durch das ganze 20. Jahrhundert – von Bertolt Brecht bis Wolf Wondratschek, von Ernest Hemingway und Norman Mailer bis Joyce Carol Oates. Geistesarbeiter und Faustkämpfer – eine innige Beziehung, die nicht immer etwas mit Gewaltvoyeurismus zu tun hat: Der Soziologe Max Horkheimer entschuldigte sich 1952 für seine Abwesenheit bei einem Empfang mit den Worten: “Wir haben uns einen Boxkampf angesehen. Sehr zu empfehlen. Das beste Mittel gegen Aggression.”
Intellektuelle am Ring
Bereits in der Weimarer Republik, als das Boxen – neben dem Sechstagerennen – zum Massenereignis aufsteigt und in Berlin ein typisches Boxmilieu entsteht, sitzen neben den Damen und Herren der besseren Gesellschaft und dick beringten Ganoven auch viele Intellektuelle am Ringgeviert. 1921 gründete der Berliner Galerist Albert Flechtheim den “Querschnitt”, das den ungewöhnlichen Untertitel “Magazin für Literatur, Kunst und Boxsport” trug. Darin hieß es: “Der Querschnitt hält es für seine Pflicht, den Boxsport auch in deutschen Künstlerkreisen populär zu machen. In Paris sind Braque, Derain, Dufy, Matisse, Picasso, de Vlaminck begeisterte Anhänger, und Rodin fehlt bei kaum einem Kampf.” Die Zahl der Geistesgrößen, die in den 1920er Jahren vom Boxen magisch angezogen wurden, ist enorm: U.a. gehören Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz und Egon Erwin Kisch dazu. Fritz Kortner, der Prototyp des expressionistischen Schauspielers, schulte an Boxern seinen Blick für Gestik, Mimik und Theatralik: “Die Ausdrucksskala in Gesicht, Augen und Körper des Boxers war für mich eine erregende und anregende Lehrstunde.” Literaten wie Thomas Mann und Ödön von Horváth studierten beim Boxkampf fasziniert die atavistischen Reflexe des schwitzenden und schreienden Publikums, die “Vitalität der Rohheit” sowie die Unberechenbarkeit der Masse – und schlugen daraus Kapital für ihre Arbeit.
Stoff für tausend Tragödien
Zweifellos gibt es im Ring genügend Anregungen für unendlich viele Gemälde, Romane und vor allem Tragödien. Jeder Faustkampf markiert eine Grenzerfahrung. In unverfälschter Archaik wechseln großartige Triumphe mit vernichtenden Abstürzen. Innerhalb weniger Runden werden im Ring die Wechselfälle des Lebens durchdekliniert. Brecht, Hemingway und Co. wussten: Der Fight Mann gegen Mann verfügt über ein hohes allegorisches Potenzial. Dazu gehören Rollenspiele mit Archetypen-Charakter. So tritt z.B. regelmäßig der alternde Star gegen den aufstrebenden Nachwuchsmann und jungen Helden an. Oder die “ehrliche Haut” gegen den mit allen Wassern gewaschenen Schläger. Direkt am Ring sitzen die Mächtigen, Reichen und Schönen, auf den hinteren Rängen drängt sich das gemeine Volk. Der Kampf emotionalisiert die Massse zwischen Hosianna und “Hau ihn um”. Wie im Alltag gibt es auch im Ring keine Gerechtigkeit. Jeder Boxkampf ist ein Live-Erlebnis, Ausgang ungewiss. Noch ganz am Ende kann der “Lucky Punch” den Kampfverlauf auf den Kopf stellen. Fast wie im richtigen Leben – und das alles auf wenigen Quadratmetern im Ringgeviert.
Brecht und Grosz lassen sich inspirieren
Auch Bertolt Brecht gab sich solchen Studien hin, verstärkt noch durch seine Freundschaft zu dem Boxer Samson-Körner. Dieser hatte mit Brecht zusammen das Romanfragment “Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner” ausgearbeitet. Es erschien 1926/27 in der Sportzeitschrift “Die Arena”, die nach vier Folgen allerdings eingestellt wurde. Die Uraufführungen seiner “Kleinbürgerhochzeit” und des “Mahagonny”-Songspiels fanden auf Wunsch Brechts in der Kulisse eines Boxrings statt, in Großkampftag-Atmosphäre. Brecht, von dem Beiträge mit Titeln wie “Sport und geistiges Schaffen” oder “Das Theater als Sport” stammen, dazu: “Man muss ins Theater gehen wie zu einem Sportsfest”. Darüber hinaus war für Brecht auch der Weg vom Box- zum Klassenkampf nicht allzu weit. Auch der deutsche Box-Heros der Zwischenkriegszeit, Max Schmeling, kam in Berührung mit der intellektualisierten Box-Bohéme. Er war nicht nur mit Fritz Kortner befreundet, sondern lernte im Haus des Galeristen Flechtheim auch Josef von Sternberg und Heinrich Mann kennen. Dem Maler George Grosz stand er 1926 sogar Modell für ein Gemälde, das ihn in Boxerpose zeigt.
Was sagen die Boxer: Ist Boxen Kunst?
In ein Gästebuch schrieb der spätere Weltmeister Max Schmeling folgenden launigen Reim: “Künstler schenkt mir eure Gunst, Boxen ist doch auch ‘ne Kunst!”. Der ukrainische, in Deutschland lebende, promovierte Schwergewichtsboxer Vitali Klitschko (“Dr. Faust”) schlägt in dieselbe Kerbe: “Boxen, das ist eine Kunst... Man möchte etwas Besonderes zeigen. Nicht jeder kann das. Der Boxring ist eine Szene, wie im Theater. Ein kleines Drama, und der Boxer muss wie ein guter Schauspieler sein.” Ein anderer Boxer, der Berliner Graciano Rocchigiani, sieht die Sache etwas nüchterner: “Für mich is det totaler Quatsch, det janze Jerede über Boxen als Kunstform. Wat soll det?” Stattdessen gilt für den ehemaligen Weltmeister: “Mann am Boden, jutet Jefühl.”
„(Quelle: http://www.wissen.de/schoengeister-und-schlaeger)“